"Die Katastrophe vergessen kann man nicht. Man kann nur lernen, damit zu leben"
Gespräch mit dem Marburger Diplompsychologen und Traumaexperten Georg Pieper
Brigitte: Es kommt ja öfter vor, dass wir halb scherzhaft behaupten,
dieses oder jenes habe uns regelrecht "traumatisiert", etwas ein schlechter
Kinofilm oder eine Examensprüfung. Was aber bedeutet der Begriff Trauma
wirklich?
Pieper: Nach der Definition ist ein Trauma ein Ereignis, das jemand
erlebt und das so schwerwiegend ist, dass es ausserhalb der üblichen
menschlichen Erfahrungen liegt. Das kann ein Lawinenunglück sein, ein schwerer
Autounfall, eine Brandkatastrophe, ein Zugunglück. Dabei spielt es keine Rolle,
ob das eigene Leben direkt bedroht ist oder ob derjenige "nur" Zeuge ist.
Die Folgen dieses "Horrors" äußern sich dann als so genannte Posttraumatische
Belastungsstörungen (PTB). Es reagiert jedoch nicht jeder Mensch automatisch mit
traumatischen Störungen. Das hängt sehr von der psychischen Stabilität des
Einzelnen ab.
Man muss aber das Unglück auf jeden Fall miterlebt haben?
Nein, nicht zwingend. Auch Angehörige können durch eine Katastrophe
traumatisiert werden, weil sie vielleicht zur Unglücksstelle fahren und dort in
den Schrecken einbezogen werden, zum Beispiel wenn sie verkohlte oder
blutbefleckte Gepäckstücke identifizieren müssen.
Unter welchen Symptomen leidet ein traumatisierter Mensch?
Es gibt drei große Symptombereiche, die eigentlich immer zusammenkommen. Zum
einen ist da das Wiedererleben der traumatischen Situation. Die Betroffenen
sehen plötzlich, ohne dass sie sich wehren können, die Ereignisse erneut vor
sich mit all den dazugehörigen Gefühlen von Angst und Ohnmacht. Sie sind
praktisch wieder voll im Film drin. Das ist etwas ganz anderes und viel
intensiver, als sich bewusst an eine unangenehme Erfahrung zu erinnern.
Zweifel, Selbstvorwürfe:
Bin ich irgendwie an dem Unglück mit
schuld?
Zum Zweiten wirken die Traumatisierten wie betäubt, sie erscheinen starr und
stumpf und funktionieren eigentlich nur noch ganz mechanisch. Wir nennen das
Vermeidung. Außenstehende wundern sich dann oft: Warum weint der gar nicht? Der
zeigt ja gar keine Gefühle. Zu diesem Bereich gehört auch, Menschen oder Orten,
die ihn an das Geschehen erinnern, unter allen Umständen aus dem Wege gehen zu
wollen. Drittens zeigen sich die Symptome dadurch, dass die Betroffenen unter
extremer Anspannung stehen, also ständig "auf dem Sprung" sind, als könne jede
Sekunde wieder etwas Schreckliches passieren. Sie schlafen schlecht und leiden
natürlich unter den Folgen. Kein Mensch hält das längere Zeit durch. Wichtig ist
aber: Die körperlichen Anzeichen sind nur die Spitze eines Eisberges.
Und was findet unter der Oberfläche statt?
Die Menschen stehen meist am Abgrund ihres Daseins, so erleben sie es
jedenfalls. Sie leiden unter Ängsten und Depressionen und quälen sich mit
Selbstvorwürfen: Ich bin irgendwie an dem Unglück mit schuld. Ich bin dadurch
für etwas bestraft worden. Die Frage: Warum musste das ausgerechnet mir
passieren? Diese Frage höre ich so oft. Man sucht nach einem Ausweg, einer
Erklärung, deren Antwort nicht einfach lautet: Das war Pech, ein unglücklicher
Zufall, was auch immer. Häufig kommen dabei Schuldgefühle auf.
Auch wenn diejenigen offensichtlich gar nichts für das Geschehene können?
Ja, und das kommt sogar öfter vor als rationale Schuldgefühle. Wenn eine
Justizbedienstete, die eine Tür nicht richtig abgeschlossen hat und überfallen
wurde, sich mit Vorwürfen quält, ist das nachvollziehbar. Ich habe aber zum
Beispiel nach der Grubenexplosion in Borken eine Witwe behandelt, die einige
Tage zuvor von einem Unglück geträumt hatte und überzeugt war, sie hätte die
Katastrophe verhindert, wenn sie alle gewarnt hätte. Eine andere Patientin, eine
Lehrerin, die in einen schweren Verkehrsunfall verwickelt war, glaubte, das sei
die Strafe dafür, dass sie vor Jahren ein Kind abgetrieben hatte. Objektiv
betrachtet ist das natürlich Unsinn. Für den Traumatisierten aber ist es
Tatbestand, und es kann so belastend sein, dass er daran zu Grunde geht.
Und wiegehen Sie als Therapeut mit solchen irrationalen Selbstvorwürfen
um?
Man ist leicht geneigt, als Außenstehender den Betroffenen ihre Schuldgefühle
ausreden zu wollen. Das hilft ihnen aber in keiner Weise weiter. Im Gegenteil:
So werden sie unter Umständen nur stärker hineingetrieben, wenn sie sich
zusätzlich von allen unverstanden fühlen. Deswegen nehme ich als Therapeut diese
Gefühle sehr ernst, versuche sie nachzuempfinden und lasse mir auf den Punkt
erklären, worin ihrer Meinung nach die Schuld besteht. Von dort kann ich
gemeinsam mit den Patienten eine distanziertere Sicht einnehmen. Dann erst
können sie einen neuen Blickwinkel entwickeln.
Ist es einfacher, ein kollektives Trauma zu verarbeiten als ein einzeln
erlebtes Schicksal?
Das ist sehr, sehr unterschiedlich. Grundsätzlich bietet eine von vielen erlebte
Katastrophe die Möglichkeit, das Trauma in Gruppenarbeit zu bewältigen, und das
kann helfen, denn die Menschen sehen: Mir geht es nicht allein so. Oft reagieren
Menschen nach einer Katastrophe mit posttraumatischen Störungen, verstehen aber
gar nicht, was mit ihnen los ist. Sie glauben, sie würden verrückt, und wissen
nicht, dass ihre Reaktionen völlig normal sind angesichts einer extrem
unnormalen Situation. Nach dem ICE-Unglück von Eschede habe ich zum Beispiel
gemeinsam mit Kollegen Betroffene aus ganz Deutschland zu Gesprächsgruppen
zusammengeholt, was sehr gut war. In anderen Fällen, wie dem Grubenunglück von
Borken, kann das Kollektiverlebnis ungemein belastend sein. Dort war fast die
gesamte Gemeinde betroffen, und für den Einzelnen gab es kaum einen Ort, an dem
er nicht mit dem Schrecken konfrontiert wurde.
Wie gehen Sie bei der Traumabewältigung vor?
Ich arbeite mit einem sehr direkten Ansatz, das heißt, ich komme ziemlich
schnell und ungeschminkt auf das zu sprechen, was passiert ist. Ich lasse die
Betroffenen immer wieder detailliert schildern, was sie erlebt haben. Wir
breiten also gemeinsam zunächst das ganze Leid vor uns aus und suchen dann nach
einer Perspektive. Entscheidend ist vor allem, das individuelle Trauma des
Patienten herauszufinden. Ich will das an einem Beispiel erklären: Nach dem
Unglück in Borken habe ich einen Grubenwehrmann behandelt, der Tote und
Leichenteile bergen musste. Man glaubt ja nun, sehr schnell verstanden zu haben,
warum der Mann traumatisiert wurde. In unseren Gesprächen zeigte sich aber, dass
das Schlimmste an allem für ihn war, dass er es nicht geschafft hatte, den oben
am Schacht wartenden Angehörigen einmal Trost zuzusprechen, sie in den Arm zu
nehmen. Dass er seine eigene Unfähigkeit erleben musste, das war sein ganz
persönlicher Schrecken.
Stimmt es, dass die Zeit alle Wunden heilt?
In gewisser Weise, aber nicht in dem Sinne, dass man ein Trauma verdrängen kann,
"bis Gras über die Sache gewachsen ist". Ich habe oft erlebt, wie Leute das
versucht haben und damit kläglich gescheitert sind. Denn vergessen kann man
nicht. Man kann nur damit leben lernen und versuchen - so pathetisch das klingen
mag - "dem Leiden einen positiven Sinn zu geben". Also sich nicht mehr mit der
Frage zu quälen: Warum musste mir das passieren? Sondern sich zu überlegen: Was
sagt mir das für mein Leben, was kann ich daraus lernen? Das kann die
Entscheidung für ein religiöses Leben sein oder dafür, noch einmal einen ganz
neuen Beruf anzufangen. Im Fall des Grubenwehrmannes, von dem ich vorhin sprach,
war sein "Sinn", sich in Zukunft als Feuerwehrmann ganz speziell nur um
Angehörige zu kümmern oder bei Verletzten auszuharren und ihnen beizustehen.
Interview: Silja Ukena
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