Thema: Sechs Monate nach Eschede
Frankfurt. Die Deutsche Bahn AG hat für die 189 Opfer der Eschede-Katastrophe
und deren Angehörigen bislang etwa elf Millionen Mark zur Verfügung gestellt.
Die Eschede-Hilfe, ein Team von zwölf Personen unter Leitung des Ombudsmanns
Otto Ernst Krasney, hat bis Anfang Dezember etwa sechs Millionen Mark
ausgezahlt, vor allem für Soforthilfen und Rehabilitationsmaßnahmen. 88 Menschen
erlitten Verletzungen bei dem Unfall am 3. Juni. Die Hinterbliebenen der 102
Toten hätten rechtlich keinen Anspruch auf Entschädigung für Trauerschmerz wie
Alpträume, Schlafstörungen und Depressionen, sondern nur, wenn sie darüber
hinaus einen sogenannten psychopathologischen Schaden nachweisen könnten. Die
Eschede-Hilfe hat mit der Bahn vereinbart, auf diesen Nachweis zu verzichten. In
diesen Tagen erhalten die Hinterbliebenen eine fünfstellige Summe. Die OP sprach
mit dem Psychologen Georg Pieper über die seelischen Folgen für die Opfer, die
Angehörigen und die Helfer.
Mit Eschede ist eine Sicherheit im Leben der Menschen zerbrochen
Pieper: Den Helfern am Einsatzort des Unglücks geht es ähnlich wie den
Betroffenen
OP: Wenn Sie im Zug sitzen, denken Sie an das Unglück von Eschede?
Georg Pieper: Immer. Ich fahre viel mit dem ICE und bin eigentlich froh, daß der
ICE schnell fährt. Aber das Unglück ist auch der Tribut, den wir dafür zahlen.
Dann denkt man darüber nach.
OP: Sie betreuen demnächst in Kassel eine Gruppe Eschede-Opfer. Wie können Sie
diesen Menschen helfen?
Pieper: Zunächst ist es wichtig, daß diese Menschen einen Gesprächstpartner haben, der
die Stabilität hat, ihnen intensiv zuzuhören. Vielen geht es so, daß sie nach
dem Unglück ein außerordentliches Interesse erlebt haben. Viele fanden es toll
mit jemandem, der das Unglück erlebt hat, zu reden. Aber das Interesse war sehr
oberflächlich. Zuhören und versuchen nachzuempfinden, wie es den Menschen geht,
das ist es, was sie brauchen.
OP: Woran leiden die Menschen?
Pieper: In erster Linie sind die meisten sehr traurig, daß sie einen Verlust
erlebt haben, ein Angehöriger gestorben ist. Zu der Trauer kommen bei einigen
traumatische Ereignisse, weil sie Dinge gesehen haben, die man normalerweise
nicht erlebt, schreckliche Szenen, entstellte Leichen oder die Unglücksstelle.
Szenen, die sich vor ihrem inneren Auge immer wieder abspielen.
Sie sehen diese Bilder und haben so starke Gefühle, die der erlebten Situation
in Eschede sehr ähnlich sind. So als würden sie das Unglück noch einmal erleben.
OP: Hat dieses Unglück das Sicherheitsdenken der Menschen verletzt?
Pieper: Durch das Zugunglück ist bei den Menschen etwas passiert, was man sich
eigentlich nicht vorstellen kann. Die Fahrt mit dem Zug galt immer als sehr
sicher, sicherer als alle anderen Verkehrsmittel. Mit diesem Unglück ist diese
Sicherheit zusammengebrochen.
Dadurch können - nicht müssen - die Menschen völlig verunsichert sein. Es kann
sich bei ihnen ein Gefühl einstellen, es könnte jetzt alles zusammenbrechen.
OP: Alles, zusammenbrechen, das umfaßt das ganze Leben?
Pieper: Es umfaßt das ganze Leben. Für einige Menschen ist es so, als würden sie
am Abgrund stehen. Sie haben den Eindruck, das Leben ist eigentlich zu Ende.
Alles, worauf sie bisher gebaut haben, stimmt nicht mehr.
In solchen Situationen neigt der Mensch dazu, körperliche Zustände -
psychosomatische Beschwerden - zu bekommen. Das Herz-Kreislauf-System
funktioniert bei vielen nicht mehr, ebenso das Magen-Darm-System. Dazu kommt
eine Angst, alles nicht mehr bewältigen zu können.
OP: Stecken die Helfer vom Einsatzort in einer ähnlichen Rolle wie die Opfer?
Pieper: Den Helfern geht es ähnlich. Dazu kommt etwas ganz Besonderes, nämlich
die Rolle der Männlichkeit bei den Helfern. Als starker Mann darf man nicht
traumatisiert sein, darf man keine Betroffenheit zeigen.
Diese Männer haben ein zusätzliches psychisches Problem. Sie müssen die eigene
Rolle überdenken, daß Sie als Mann plötzlich ein traumatisiertes Opfer sind.
Deshalb: Es ist auch für Männer ganz normal, traumatisiert zu sein, sich hilflos
zu fühlen und nicht klarzukommen mit dem, was man erlebt hat. Und da sollte man
den Mut haben, dies zuzugeben. Ich meine, das ist wahre Männlichkeit, und nicht,
den starken Helden zu markieren.
OP: Grundsätzlich sind Helfer wie Opfer nicht krank, sie reagieren normal auf
eine unnormale Situation. Gibt darüber ein Lehrbuch Auskunft?
Pieper: Wir müssen den Menschen eine ganz wichtige Botschaft vermitteln, daß sie
im Grunde angemessen auf eine unnormale Situation reagieren. Daß sie keine Angst
haben müssen, was jetzt mit ihnen passiert. Ein Lehrbuch, das man zitiert, würde
niemandem helfen. Es ist ein langer Prozeß.
OP: Wie lang kann er dauern?
Pieper: Das ist vollkommen unterschiedlich, ich gehe davon aus, daß es nach den
Erfahrungen, die ich bei dem Grubenunglück in Borken gesammelt habe, mindestens
ein Jahr dauert, um sich im Leben neu zu sortieren und neue Perspektiven
aufzubauen. Für manche - das sind vor allem Eltern, die ihre Kinder verloren
haben - ist es sehr schwer, überhaupt eine Perspektive zu entwickeln. Mir sind
eine Reihe von Fällen bekannt, wo Betroffene am Anfangspunkt stehengeblieben
sind.
Nach so einem Unglück muß man nicht immer traumatisiert bleiben. Es gibt Wege
und Möglichkeiten mit fachlicher Hilfe das Trauma zu verarbeiten und für sich
einen neuen Weg zu finden. Das kann Jahre dauern.
OP: Welche Rolle spielt das soziale Umfeld?
Pieper: Die Betroffenen machen heute die Erfahrung, daß sie in die Situation
gedrängt werden: Wir haben so viel darüber gerdet, jetzt muß es doch vorangehen.
Das ist der Punkt, wo die Betroffenen wirklich allein sind. Gesellschaftlich ist
es zu verstehen. Das Trauma ist ein Thema, mit dem sich keiner gern beschäftigt.
Aber die Betroffenen brauchen sehr viel Verständnis. Sie müssen das Erlebte
100mal, vielleicht noch 200mal erzählen.
OP: Die Menschen sind nicht krank, wer bezahlt Sie?
Pieper: Das muß man differenziert betrachten. Die Menschen sind nicht krank,
aber sie können Krankheiten entwickeln, wie traumatische Belastungen,
Angststörungen oder Depressionen. Also Krankheiten, deren Behandlung von der
Krankenkasse bezahlt wird. Wir Psychologen werden von der Deutschen Bahn AG
bezahlt.
OP: Was bedeutet den Opfern das Geld, das die Bahn zahlt?
Pieper: Es ist keine Wiedergutmachung, weil man so etwas nicht wieder gutmachen
kann, es ist auch kein Trostpflaster, weil Geld nicht tröstet. Aber es ist
sinnvoll, von seiten der Bahn zu zeigen, wir sind in der Verantwortung, und wir
müssen was tun.
Es wird bei den Betroffenen nie so ankommen, daß sie sagen, das tut gut. Ein
Menschenleben kann man nicht bezahlen, aber trotzdem, wenn nichts gemacht würde,
dann wäre die Situation noch viel verletzender.
OP: Wollen die Opfer eigentlich wissen, wie es zu dem Unfall gekommen ist?
Pieper: Es spielt eine wichtige Rolle. Man möchte wissen, wer daran schuld ist,
daß der Mann, die Frau oder das Kind gestorben ist. Solange man es nicht weiß,
gibt es eine innere Unruhe. Die Suche nach dem Schuldigen gehört mit zum
Verarbeiten. Man muß natürlich genau überlegen, was bedeutet es, wenn nachher
ein Schuldiger gefunden wird. Letztlich ist es für kein Opfer eine Hilfe, wenn
man weiß, ein Bestimmter hat einen Fehler gemacht.
OP: Eschede war ein sehr extremer Einschnitt, lassen sich die Erfahrungen auch
auf andere Gewaltopfer - sei es Geiselnahme oder Vergewaltigung - übertragen?
Pieper: Ja, das sind nur graduelle Unterschiede. Es geht eigentlich darum, daß
alle Gewalt- oder Katastrophenopfer etwas erlebt haben, was ihr bisheriges Leben
vollkommen erschüttert hat und das normale Leben so stört, daß sie gar nicht
normal weiterleben können. Dann wollen viele auf die Art und Weise damit
klarkommen, daß sie versuchen zu vergessen und so zu leben, wie vorher. Das
funktioniert nicht, das ist immer zum Scheitern verurteilt. Sie werden von den
Erlebnissen eingeholt, werden von ihnen überflutet. Der Körper funktioniert
nicht mehr, die Psyche spielt verrückt. Doch wenn man es schafft, sich
zurückzuerinnern, dann hat man die Chance, gereifter weiterzuleben.
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Georg Pieper:
Seit zehn Jahren betreut Diplom-Psychologe Georg Pieper (Foto) aus
Friebertshausen Opfer und deren Angehörige von Katastrophen. Ab dem 18. Dezember
wird er in Kassel zwei Gruppen mit Betroffenen des Zugunglücks in Eschede
betreuen. Bereits unmittelbar nach der Katastrophe kümmerte sich Pieper um das
psychologische Personal der Deutschen Bahn AG. Gemeinsam wurden Hilfsmaßnahmen
erarbeitet, aber auch Hilfestellung gegeben, um die Einsätze emotional zu
verarbeiten.
Seine Erfahrung machte Pieper unter anderem mit dem Grubenunglück in Borken, mit
dem Flugunglück in Ramstein und nach dem LKW-Unglück in Herborn.
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